Ich glaube, ich habe schon lange kein solches Gefühls- und Gedankenchaos erlebt, wie in den letzten Wochen, seit dem Corona die Welt „beherrscht“.
Da gibt es die weltpolitische Komponente: was von allen (oftmals so kontroversen) Nachrichten ist die Wahrheit? Wie schlimm ist die weltweite Situation tatsächlich? Wird gerade aufgebauscht oder verharmlost? Was ist mit unseren Rechten, die uns auf einmal so einschneidend genommen wurden? Wie geht es weiter? Gibt es ein „nach Corona“? Und wird es wie „vor Corona sein“? Wäre das überhaupt gut? Liegt die Weltwirtschaft dann am Boden? Welche Folgen wird das langfristig haben?
Dann kommt die geistliche Komponente: will Gott uns mit Corona etwas sagen? Ist Corona Gericht? Leben wir in der Endzeit (was gibt es nicht für schräge Youtube-Missionare, die uns das auf die ein oder andere Weise Glauben machen wollen…)? Nutzen wir Christen die Situation ausreichend, um neue Wege zu den gerade so fragenden Menschen zu finden? Kann mein Glaube und mein Vertrauen sich jetzt, in diesen harten Zeiten (sind sie wirklich hart?) bewähren? Und werden wir am Ende als ganze Welt und als Christen genug und das Richtige aus allem gelernt haben (weiß jemand, was das richtige wäre?)?
Und einerseits am scheinbar unwichtigsten und zugleich aber auch am präsentesten ist die persönliche Komponente: Wie gehe ich damit um, wenn einer meiner Lieben oder ich selbst von Corona betroffen werde? Was oder wem glaube ich, wie erziehe ich, wie entscheide ich, wie gestalte ich, wie lebe ich jeden einzelnen Tag? Wie gehe ich damit um, dass mein gutes Alltagssystem für uns als 5-köpfige Familie plötzlich zerstört wurde? Kann ich nun wirklich umarmen, dass ich geliebt bin, auch wenn ich nichts mehr leiste (außer zu waschen und zu kochen und zu saugen und Homeschooling zu betreiben und zu puzzlen und zu malen und zu schimpfen und Streit zu schlichten und spazieren zu gehen und und und – aber eben alles Dinge, die am Ende eines Tages aussehen, als hätte man nichts gemacht)? Wie wichtig ist mir mein persönlicher Luxus (wir haben bereits vier Freizeiten für die Kids und uns als Familie und einen Kurztrip nur für meinen Mann und mich absagen müssen – und unser Sommerurlaub steht auch grade auf der Kippe…)? Wie bekomme ich die Frau in den Griff, die sich mir jetzt als so viel dünnhäutiger, leistungsorientierter, ungeduldiger, glaubensmüder und schwächer präsentiert als gedacht (oder zumindest gehofft)?
Kann ich nun wirklich umarmen, dass ich geliebt bin, auch wenn ich nichts mehr leiste?
All diese und tausende mehr Gedanken kombinieren sich abwechselnd in meinem Kopf zu bedrohlichen, dann wieder zu nervigen und dann auch zu tröstlichen Gedankengebilden. Die Nachrichten, das Gespräch mit der Nachbarin, eine Email, ein Konflikt mit meinen Kindern oder die halbe Stunde Joggen – all das kann eine völlig veränderte Situation in mir hervor rufen.
Und das ist anstrengend.
Darüber hinaus hält sich die Ungewissheit, wie lange wir aushalten müssen. Reicht aushalten überhaupt, weil es in absehbarer Zeit wieder „normal“ wird? Oder müssen wir tatsächlich neue Systeme für uns als Familie, für Gemeinschaft mit andere, für Gemeinde, für den Job, für die Schule etc. finden? Keiner weiß es. Und das hilft auch nicht grade dabei, gelassen oder zuversichtlich zu sein.
Ach ja, und dann kommt zu alledem noch mein persönlicher Druck. Bei Instagram schreiben Mütter, wie toll das Homeschooling gelingt und wie sehr sie die derzeitige Situation als so intensive Familienzeit genießen. Unzählige Gemeinden und Vereine bieten mir Programme an, wie ich mit meinen Kindern Gottesdienst oder sonstige wertvolle Zeiten gestalten kann. Mutmachtipps überschlagen sich. Christen schreiben in jeglichen Foren, wie Corona ihren Glauben an Gott bereichert. Und ich fühle mich mitten darin wie ein Versager: ich streite täglich mit meinen Kindern und bin froh, wenn sie sich selber beschäftigen oder abends endlich im Bett sind, ich komme mit meinen beruflichen Aufgaben nicht hinterher (bzw. würde ich gerne viel mehr machen, um mich wertvoller zu fühlen), ich schätze meine hausfraulichen Tätigkeiten gering, ich mache unregelmäßig stille Zeit und Gebet fällt mir schwer (ich kann mich nämlich kaum konzentrieren und wenn ich mir dann mal Zeit nehme, weiß ich nicht, was ich beten soll, weil meine Gedanken von all den oben erwähnten Fragen ganz kirre werden), ich habe die Zeit nicht dafür genutzt, für meine Nachbarn einzukaufen (Ich hab sie gefragt! Aber sie wollten nicht…), einen Haufen liebvoller Postkarten zu schreiben oder kostenlose Mutmachbilder zum Download anzubieten. Ich bin grade froh, wenn ich überlebe – und Corona scheint dabei mittlerweile mein kleinster Feind.
Schon länger spukt mir der Gedanke durch den Kopf, einen eigenen Psalm zu schreiben und damit zu verarbeiten, was mich beschäftigt. Das scheint David ja auch immer ganz gut getan zu haben. Und ich könnte ihn dann vielleicht sogar bei Instagram posten und noch ein bisschen Applaus für mein Ego ernten. Aber nicht mal dazu finde ich ausreichend Zeit, Konzentration, Hirn, Tiefgang oder Witz (oder was man halt so braucht, um einen Psalm zu schreiben).
Und ich fühle mich mitten darin wie ein Versager.
Gerne würde ich nun sagen, dass all das Beschriebene bis gestern meine Realität war, aber dass sich heute etwas verändert hat. Dass Gott zu mir gesprochen hat. Dass ich all das in Gottes Hände legen konnte und nun völlig verwandelt bin. Dass tiefer Frieden in mir eingekehrt ist, der mich auf übernatürliche Weise sanft trägt. Dass ich keine Antworten mehr brauche, weil Gott die Antwort ist. Dass nichts mich erschüttern kann, weil Christus meine Hoffnung so präsent ist. Dass ich das tiefe Tal gebraucht habe, um von Gott zurück auf die Höhe geführt zu werden. Dass mein Charakter so wunderbar geformt wurde und dass ich die Zeit nicht missen will! (Sicher passiert gerade tatsächlich ganz viel von dem – aber es passiert bisher noch SEHR verborgen…)
Aber etwas kann ich sagen. Kleiner, als ich wünschte und doch tragfähiger, als ich dachte.
Vor kurzem tauschte ich mich mit meiner Herzensfreundin über mein Chaos aus (das ihrem relativ ähnlich ist). Und dann erzählte sie mir, dass ihr oft einziges und zigmal wiederholtes Gebet ist „Nur für heute“. Damit knüpft sie an die wunderbaren Worte von Jesus aus der Bergpredigt (Mat. 6:25-34) an. Und ich habe sie mir auch zu eigen gemacht.
Nur für heute. Jesus, ich falle auf Dich.
Nur für heute. Durchhalten, weitermachen, kümmern.
Nur für heute. Ich bin nicht alleine.
Nur für heute. Ich bin umsorgt, auch wenn ich es nicht spüre.
Nur für heute. Denn das reicht.
Nur für heute. Unscheinbar, wenig, aber wichtig.
Nur für heute. Mehr habe ich nicht und mehr schaffe ich nicht.
Mein Heute liegt in Deiner Hand
– und dann wird es mein Morgen auch tun.
Aber darum geht es eben erst Morgen.
Während ich diese Worte denke, bete, schreibe, atme, fällt mir auf, dass Psalmen ja nicht nur Klagen sind, sondern auch Gebete. So ist dies vielleicht „mein“ Psalm, der nun ganz anders aussieht, als ich dachte. Aber vielleicht (bestimmt) ist dieser „Psalm“ viel wertvoller, als mich im Klagen zu verlieren…
Ich teile ihn hier mit Dir. Nicht für Applaus, nicht für Likes, nicht für Anerkennung. Sondern weil ich ihn Dir schenken will, so wie er mir geschenkt wurde. Du darfst Dich auf diese Worte fallen lassen, so wie ich es tue. Darfst sie Dir zu eigen machen, wenn Dir die Worte fehlen. Darfst Dein Heute davon durchziehen lassen und Dein Morgen damit vorbereiten. Während Corona und gerne auch an jedem anderen Tag nach Corona – wie auch immer diese Zeit dann aussehen wird!
(Dieser Artikel ist in Auszügen zuerst in der Joyce erschienen)
Eine Antwort
Danke für die schönen Worte und dieses treffende Gebet. Nicht an Dein Ego sondern an Dich als Mensch. Du sprichst mir damit aus der Seele und ich erkenne mich und meine durcheinander geratene Welt darin so sehr wieder. Danke