Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, saßen wir grade beim Familienfrühstück. Nutella, Lachen, frische Brötchen für uns – Angst, Bomben, eine Zukunft voller Ungewissheit für die Menschen auf der anderen Seite Europas.
Sofort beschlich mich ein mulmiges Gefühl: was würde in den nächsten Stunden, Tagen, Wochen passieren? Sind wir in Deutschland in Gefahr? Welche Ausmaße würde das ganze einnehmen? Angst überfiel mich. Und zu all diesen Gedanken schien weiter die Sonne, dufteten weiter die frischen Brötchen, umgab uns Frieden und die Aussicht auf einen entspannten Sonntag im Westerwald.
Das Leben findet gleichzeitig statt. Immer. Seit Corona, der Flut im Ahrtal und dem Krieg in der Ukraine ist uns das vielleicht bewusster geworden, weil das global Schwere (im Vergleich zu persönlichem und individuellem Leid) noch näher gerückt ist. Wir gehen shoppen und jemand anders pumpt Matsche aus seinem Wohnzimmer. Wir planen den Sommerurlaub und ein Freund liegt mit Corona auf der Intensivstationen. Wir machen einen Sonnenspaziergang und die ukrainische Mutter verlässt mit ihrem Kind fluchtartig die Heimat.
Aber auch längst davor war die Gleichzeitigkeit des Lebens eigentlich kaum auszuhalten, wenn man sich einen Moment Zeit genommen hat, um genau hinzuschauen. Krieg hier, Frieden dort. Neues Leben hier, Tod dort. Reichtum hier, Armut dort. Das betraf schon immer die ganze große Welt sowie auch meine kleine. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich mich schminkte und mein Mann mir mitteilte, dass ein kleiner Junge aus unserem Freundeskreis grade bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen war. Der bunte Lidschatten in meiner Hand hätte hämischer nicht lachen können.
Das Leben findet gleichzeitig statt. Und wie alle Spannungen des Lebens würden wir auch diese gerne auflösen. Aber ich fürchte, wir müssen sie aushalten lernen.
Eine ganz wesentliche Erkenntnis, die mich die Gleichzeitigkeit des Lebens gelehrt hat, ist, dass ich das Leben nicht in der Hand habe. Jeder noch so schöne Tag kann von einem auf den anderen Moment in einer Katastrophe enden. Das klingt erschreckend und das ist es glaube ich auch, wenn man Gott nicht kennt (Entschuldigung, wenn ich das so unverblümt sage). Ich frage mich sowieso oft, wie man das Leben aushalten kann ohne sich von Gott – dem Herrn über alles Leben – gehalten zu wissen. Wo kann ich mit meinen Fragen, Sorgen, Nöten anknüpfen wenn nicht bei dem, der die Geschichte, die Welt und alle Ewigkeit in seiner Hand hält?
Wenn das Leben sich jederzeit ändern kann (und Covid, die Flut und der Krieg haben uns das einmal mehr deutschland- oder sogar weltumspannend vor Augen geführt), wie kann ich es denn dann erfüllt und angemessen leben? Die Bibel gibt einen Rat, den ich ehrlich gesagt so von ihr gar nicht erwartet hätte. In Prediger 7,14 schreibt Salomo: „Wenn es dir gut geht: Freu dich daran! Und wenn du von Unglück betroffen bist: Denk daran, dass dieser Tag wie auch jener von Gott gekommen ist, damit der Mensch nicht herausfinden kann, was die Zukunft bringt.“ Wenn es dir gut geht, freue dich daran! Wow. Ist das nicht ganz schön ignorant? Wenig empathisch?
Ich will diese Freude einen Moment anschauen. Sicher ist hier nicht gemeint, so zu tun, als sei meine halbwegs heile eigene Welt die einzig reale und alles andere ginge mich nichts an. Diese Freude verschließt nicht die Augen davor, dass andere Menschen gerade die schwerste Zeit ihres Lebens durchmachen. Aber umgekehrt nützt es niemandem, wenn ich die Wärme der Sonne nicht genieße, nur weil es woanders regnet. Wenn ich meinen Geburtstag nicht feiere, weil woanders eine Beerdigung stattfindet. Niemandem ist damit geholfen – ganz im Gegenteil! Wenn ich aufhöre, mich an der Schönheit des Lebens zu erfreuen und das Gute zu feiern, macht mich das nur kraft- und mutlos.
Ich weiß, dass das ein Drahtseilakt ist. In mir selbst melden sich schon eine Vielzahl von „Abers“. Aber ich muss doch Mitgefühl haben. Aber ich muss doch helfen. Aber ich darf doch nicht unbeschwert sein, wenn es anderen nicht gut geht. Richtig – das hat auch keiner gesagt. Aber da, wo ich mich emotional so in das Leid eines anderen involviere, dass ich mich fühle, als sei es mein eigenes (und sei es z.B. nur durch Nachrichten über den Krieg) werde ich Opfer, obwohl ich eigentlich nur Zeuge bin. Das Problem dabei: Opfer sind handlungsunfähig. Aber die wahren Leidtragenden brauchen Gegenüber, die handlungsfähig sind. Menschen, die die Matte tragen, auf der sie liegen. Die sie in den Kontakt mit Jesus bringen, wenn sie selber nicht mehr können. Die so bei Kräften sind, dass es phasenweise für zwei reicht.
Wenn es dir gut geht, dann freue dich daran. Das beinhaltet für mich auch Dankbarkeit für das Gute. Nimm wahr, was du hast. Das Leben ist ein Geschenk – feiere es bunt und laut und leidenschaftlich. Siehst du überhaupt, wie gut es dir geht? Kannst du dich noch freuen oder ist alles Gute so selbstverständlich? Was würde der flüchtende Ukrainer oder der Long-Covid-Patient empfinden, wenn du dich bei ihm darüber beklagst, dass die Waage schon wieder ein Kilo mehr anzeigt? Eigentlich hasse ich Sprüche wie „Sei dankbar für deinen Spinat. Andere Kinder würden sich freuen, wenn sie ihn essen dürften.“ Aber dennoch steckt eine tiefe Wahrheit darin. Ja, vielleicht ist Spinat nicht das leckerste Gemüse. Vielleicht bin ich nicht die Schlankste, die Reichste, die Berühmteste. Aber ich bin gesegnet – und andere Menschen wären dankbar, wenn sie unter meinen Problemen „leiden“ dürften. Wenn wir nur das am Leid der anderen lernen würden, dann wäre das schon so viel!
„…damit der Mensch nicht herausfinden kann, was die Zukunft bringt.“ Steiles Ende des Bibelverses. Da muss ich erst mal schlucken. Will Gott mich absichtlich in Unsicherheit wiegen? Ich glaube Ja und Nein.
Warum ja? Weil es heilsam ist sich daran zu erinnern, dass ich nicht Herr des Lebens bin. Ich habe das Leben nicht unter Kontrolle. Ich habe Grenzen und die Gleichzeitigkeit des Lebens ist der beste Beweis dafür. Ich weiß nicht, was Morgen ist. Und egal, wie sehr ich halte, helfe, schütze, liebe – ich werde die Menschheit, die Welt oder was auch immer nicht retten können. Diese Tatsache gilt es – mitten in alldem, was ich doch tun kann und soll – auszuhalten. Sie macht demütig.
Und warum Nein? Weil er die Arme weit geöffnet hat. Er ist der Halt, der, der Leben und Tod in seiner Hand hat. Und er wendet sich mir in Liebe zu. Sieht mich – mitten im Leben. Mitten in der Gleichzeitigkeit. Mitten in dem, was ich kaum aushalten kann. Und hält auch mich mit allen Fragen, Zweifeln, Grenzen aus. Dabei sieht er meine Schuld und meinen Anteil am Leid anderer – und liebt mich dennoch. Gleichzeitig.
2 Antworten
Danke für diesen ermutigenden Impuls, liebe Elli
Hallo Elli,
Prediger 7, 14 ist schon lange mein Lieblingsvers. Ich finde den Artikel ausgesprochen gut und hilfreich und denke, dass gerade viele Christen in dieser Zeit in dieser Spannung leben. Du findest, wie eigentlich immer, sehr treffende Worte, um das zu beschreiben, was man selbst eben nicht so gut beschreiben kann. Vielen Dank!